Wie die Zeit vergeht |
31.03.2015 |
Kinder und Jugendliche aus dem Ruhrgebiet erzählen
Titelseite der Anthologie © Geest-Verlag |
Sind Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart heute noch voneinander zu trennen? Filmanimationen, Computerspiele, das Internetzeitalter insgesamt, rücken die Zeiten zusammen, verwischen die Grenzen. Was bedeutet das für die Kinder und Jugendlichen heute! Was bedeutet Zeit gerade für diejenigen unter ihnen, die im Ruhrgebiet groß werden? Wie erleben sie ihre Zeit im Facebook- und NSA-Zeitalter? Bekanntlich ist das Revier ein Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen und damit natürlich auch von ganz unterschiedlichen Zeitkulturen. Was zeichnen die Kinder und Jugendlichen gerade hier für ein Bild? Wie denken sie über die Zeit und das, was auf uns zukommt? Über ihre Zeit und ihre Zukunft?
In der zehnten Essener Anthologie, einem Buchprojekt, das vom Kulturzentrum Grend in Essen und vom Geest-Verlag in Vechta getragen wird, präsentieren Kinder und Jugendliche aus dem Ruhrgebiet ihre Sicht der Dinge.
Deutlich wird, so die Herausgeber der Anthologie, dass sich in diesem zehnten Jahr des Bestehens der Anthologie eine neue Generation zu Wort meldet mit neuen Sichtweisen und neuen Standpunkten, die auch Erwachsenen neue Einsichten in unsere Zeit und unsere Welt vermitteln können.
In ihrem Text „Hilfe! Halt doch mal an!“, den wir nachfolgend mit freundlicher Genehmigung als Leseprobe veröffentlichen, schreibt die 17-jährige Chantal Wendeler, was sie sich zum achtzehnten Geburtstag wünscht.
Hilfe! Halt doch mal an!
Ehrlich gesagt, kann ich mich leider nicht mehr ganz an meine Kindheit erinnern. Meine Eltern schwärmen immer von dieser Zeit. Aber warum kann ich mich nicht mehr daran erinnern? Ich meine, so lange ist es ja auch noch nicht her, oder? Ich kann mich nur manchmal an einige schöne oder schlechte Momente erinnern, aber warum nicht an alles? Ich brauche doch meine Erfahrungen! Was macht die Zeit nur mit uns? Sie lässt uns immer größer werden und ab einem bestimmten Alter wieder schrumpfen? Warum kann ich nicht einfach so bleiben, wie ich bin, und einen bestimmten Moment festhalten? Mich einfach mal hinlegen und ausruhen?
Wo ist die Geburt von meinem Bruder hin? Er ist jetzt schon zwölf! Ich weiß noch, wie er in seiner Pampers durch den Garten gerannt ist. Jetzt rennt er mit seinen Kollegen zum Fußballplatz, und auch für mich geht ein Lebensabschnitt nach dem anderen vorbei. Ich weiß zwar noch den Namen von meinem Kindergarten, aber einzelne Momente sind wie am Computer auf der Festplatte gelöscht worden. Einfach wie weg - einfach gestrichen oder ausradiert.
Oder was ist mit meinem ersten Schultag? Ich möchte meine Ballerinaschultüte wieder haben! Doch kaum einen Atemzug später sind diese vier Schuljahre auch wieder vorbei. Halt, stopp! Ich möchte noch nicht weiter, jetzt halt doch mal die Zeit an! Doch jetzt kommt der nächste Schubser von hinten ... eine neue, viel größere Schule. So viele neue Leute. Wo ist meine Mama? Gerade hatte ich sie doch noch an der Hand! Überall sind Personen um mich und beachten mich nicht. Wo muss ich hin? Endlich, mein neuer Klassenraum und, hey, hier sind ja viele so wie ich! Schnell nehme ich die Hand, die mir meine Freundin reicht - aber das ist jetzt inzwischen auch schon sieben Jahre her - aber hallo, ich wollte doch gerade - deine Hand war doch gerade eben noch hier!
Das fünfte, sechste, siebte, achte, neunte Schuljahr vergeht wie im Flug. Alte Freundschaften zerbrechen und neue entstehen. Alte, gute Freunde bleiben sitzen, und so verliert man sich aus den Augen. Dafür kommen wieder andere. Ein Kommen und Gehen von neuen Freunden, aber auch von Feinden. Wie ein Zeitstrahl geht alles vorbei. Einer muss doch an einem Film sitzen und mein Leben vorspulen! So geht es zu den ZAPs, den Zentralen Abschlussprüfungen. NEIN, ich will noch nicht! Aber die Zeit will es so. Immer mehr lernen und lernen. Du wirst gezwungen, eigenständig zu werden. Und immer diese Prüfungsangst! Schaffe ich das, schaffe ich es nicht?
Was passiert, wenn ich es nicht schaffe? Von außen rufen alle, du schaffst das, aber HALT! Was mache ich, wenn ich meine ZAPs geschafft habe? Was ist mein nächster Lebensabschnitt? WAS KOMMT DANACH?
Doch der Faden zieht sich immer weiter - und du kannst ihn auch nicht abschneiden. Die Prüfungen sind geschafft, und jetzt wird gefeiert! YEAH! Aber hey, schon vorbei? Aber - ich hab doch gerade erst - meine alten Freunde - puff - weg. Neue Schule, wieder neue Leute. Hätte ich das wirklich machen sollen? Wäre ich doch mal lieber arbeiten gegangen! Alle meine Freundinnen haben jetzt auch schon einen Freund. Ist das nicht noch viel zu früh? SCHWUPS! Oh, hi, also du bist mein Freund?
Die Zeit rennt, sie rast schon förmlich. Ich möchte doch einfach mal nichts tun und einen Moment genießen, aber nein, da ist die Schule, da sind Hausaufgaben, Freund, Familie, Freundinnen - wie soll ich das nur alles schaffen? Hier noch was, da ein Test und da eine Klausur. HILFE! WIE SOLL ICH DAS DENN ALLES SCHAFFEN? Ich brauche doch noch den Führerschein. Ihr wisst doch, die Eigenständigkeit ruft. Immerhin muss ich ja auch mobil sein für meinen späteren Beruf. Macht sich bestimmt gut in der Bewerbungsmappe! Warte mal - Beruf - JOB? ICH BIN DOCH GERADE ERST IN DIE OBERSTUFE GEKOMMEN!
Immer dieser Druck. Ich habe doch noch zwei Jahre, oh ja, nur noch zwei Jahre - aber ich bin doch erst, oh ja, vor einem Jahr auf diese neue Schule gekommen! Und wisst ihr was? Bald werde ich achtzehn! Was heißt „bald“? In ein paar Monaten. Aber wenn ich Glück habe, vergeht das ja auch so schnell wie der Rest meines Lebens .... Jej, volljährig, und wo ist die Kindheit geblieben?
Ihr wisst noch nicht, was ihr mir zum achtzehnten Geburtstag schenkt? Schenkt mir doch einfach mal Zeit!
Autorin: Chantal Wendeler (17 Jahre)
Quelle:
Andreas Klink, Artur Nickel (Hg.)
Wie die Zeit vergeht. Kinder und Jugendliche aus dem Ruhrgebiet erzählen
Vorwort von Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen
Zehn Jahre Essener Anthologien
Geest-Verlag, Vechta 2014, 12 Euro
ISBN 978-3-86685-490-1
Kontakt:
Dr. Artur Nickel
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