Essener Anthologie „WER ich WO bin?!“ |
04.05.2018 |
Kinder und Jugendliche aus dem Ruhrgebiet erzählen
Titelseite der Anthologie © Geest-Verlag |
Die Tür öffnet sich
Wie ein Vorhang
Ich setze meine Maske auf
Die Show geht los
Zum nunmehr dreizehnten Mal haben das Kulturzentrum Grend und das Literaturfestival Literatürk Essen gemeinsam mit dem Geest-Verlag Vechta eine Anthologie für Jugendliche aus dem Ruhrgebiet ausgeschrieben. Dabei wurden sie von zahlreichen Kooperationspartnern unterstützt. Das Thema: „WER ich WO bin?!“ Mehrere Hundert Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund aus dem Ruhrgebiet haben sich an dem Projekt beteiligt und sich offen und intensiv mit der Frage nach der eigenen Identität auseinandergesetzt. Wer bin ich? Woher stamme ich? Wer möchte ich sein? Wohin geht meine Reise? Die Beiträge, die sie eingeschickt haben, haben es in sich. Sie beeindrucken. Denn sie beschäftigen sich mit Fragen, die viele heute in Deutschland umtreiben. Mehr als 100 Texte konnten in den Sammelband aufgenommen werden. Aboorvithaa Arumugam (17 Jahre) umreißt in ihrem Gedicht „Unendliche Suche des Lebens“, worum es in dieser Anthologie geht: „7,4 Milliarden Menschen. / 7,4 Milliarden verschiedene Persönlichkeiten. / 7,4 Milliarden Seelen. / Unter diesen meine.“ Was also tun, wenn man nicht verloren gehen will?
Unsere Welt mit ihren vielfältigen familiären, schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Ansprüchen macht es jungen Menschen heute schwer, die eigene Identität auszubilden. Aber sie stellen sich dieser Aufgabe. Gleichwohl bleibt ein Teil ihrer Fragen unbeantwortet, ja, muss vielleicht auch unbeantwortet bleiben.
Was können Erwachsene tun, damit Jugendliche vorwärtskommen? Vor allem diejenigen, die in Familie, Erziehung, Wirtschaft und Politik Verantwortung tragen (wollen)? Die Anthologie zeigt, was junge Menschen brauchen und brauchen könnten. Und sicherlich nicht nur die, die im Ruhrgebiet zu Hause sind!
Als Leseprobe folgt der Text von Helene Awakowicz, 16 Jahre (S. 358 - 360).
Ich laufe und laufe
Seit Tagen warte ich auf diese Stunde, freue mich, endlich wieder auszugehen, raus aus diesem sich immer weiter drehenden Alltag. Doch bedeckt wird meine Freude von großem Zweifel, den ich aber mit der Zeit gelernt habe zu verdrängen. Ich bin ein Meister im Verdrängen meiner Gefühle, lasse sie nur ungern zu, immer darauf bedacht, meine Fassade zu wahren. Noch bin ich bedrückt, aber ich weiß, gleich, wenn es an der Tür klingelt, lasse ich dieses Gefühl verschwinden und schlüpfe aus mir heraus in jemanden, der so ist, wie andere mich haben wollen.
Fröhlich lachend begeben sie sich auf den Weg in Richtung des angesagten Festivals, alle scheinen zufrieden und glücklich zu sein. Sie gelangen in einen Strom, dicht an dicht, umringt von Menschen, die sie mitreißen. Es wird nicht mehr nachgedacht oder abgewogen, das Einzige, was in diesem Moment zählt, ist das Gemeinsame. Das Gefühl, eins mit der Menge zu sein, sich ausgelassen zu bewegen und nichts anderes mehr wahrzunehmen als die Musik. Die Kontrolle wird scheinbar abgelegt und es wird vergessen, was gestern oder heute geschehen ist und was morgen passieren wird.
Ich spüre nichts mehr, außer dem Gefühl des Erstickens. Mir kommt es vor, als würde ich eingeengt werden, zu viele Menschen sind um mich herum. Ich versuche, Luft zu holen, doch gelingen tut es mir nicht, mir schnürt es die Kehle zu, so zu sein wie in diesem Moment. Ich versuche, all jenem keine Beachtung zu schenken und mich dem zu widmen, was hier geschieht. Ich konzentriere mich auf den Rhythmus der Musik zu meinem schlagenden Herzen, ich weiß, dass mich das beruhigt. Wie oft ich mich schon in solchen Situationen befand, nie fühle ich mich vollkommen wohl, doch warum ändere ich nichts? Es ist ein ewiger Kreislauf, dem ich noch nicht gewachsen bin ... zu entfliehen, auszureißen, einfach gegen den Strom zu schwimmen. Meine Gedanken rauben mir den Atem, stürzen in meinem Inneren auf mich herab. Hoffnungsvoll blicke ich dem Ende des Abends entgegen. Aber hatte ich mich nicht gefreut? Ja, ich freute mich, freute mich auf den Rhythmus der Musik, eins mit der Menge zu sein, nicht aufzufallen, aber doch kann ich nicht ich sein.
Ich gebe auf, bin nicht stark genug, muss mich geschlagen geben gegen den immerwährenden Kampf, mich zu verändern. Ich möchte nicht schüchtern oder langweilig sein, doch bin ich es, jenes wird mir immer wieder unmissverständlich klar. Ich verschwinde unter dem Vorwand, mich frisch machen zu wollen. Langsam und nun immer schneller werdend entferne ich mich von der unglaublichen Menschenmasse, ich renne los und mir laufen die angestauten Tränen wie in Bächen über meine vom Wind gekühlten Wangen. Es ist dunkel, doch ich laufe, laufe und laufe, mache erst halt an einem mir unbekannten See. Ich sehe mein Gesicht verschwommen im Wasser sich spiegeln, doch mich kann ich nicht erkennen. Erneut überrollen mich meine Gedanken, ich sehe mich an.
Warum verstelle ich mich? Warum kann ich nicht ich sein? Jeden Tag aufs Neue errichte ich eine Fassade, niemand soll mich sehen können. Ich habe das Gefühl zu ersticken, verlassen möchte ich diese Welt.
Jetzt bin ich eine andere, ich muss nicht auf meine Gefühle achten, denn verstecken kann ich sie hinter meiner Mauer. Mein anderes Ich, nun vollkommen umzingelt, zerbricht innerlich. Es ist ein immer gegenwärtiges Streben nach Sicherheit, Anerkennung, dem Gefühl von Gemeinschaft. Doch eigentlich ist es der falsche Weg, den ich gehe, so werde ich respektiert und geachtet, aber ich bin es doch gar nicht.
Ein Teil von mir schwebt wie in Zeitlupe in mein Spiegelbild. Ich spüre eine angenehme Erlösung, als das Wasser meinen Geist aufnimmt, nun frei von all meinen Sorgen. Ich bleibe allein zurück, ohne Ängste. Ich drehe mich weg von dem See, kehre mir den Rücken zu und trete hinaus aus meinem alten Leben.
Artur Nickel (Hg.)
WER ich WO bin?!
Kinder und Jugendliche aus dem Ruhrgebiet erzählen
Geleitwort: Heinrich Peuckmann (Schriftsteller)
400 Seiten, 12 Euro, Vechta: Geest-Verlag 2017
ISBN: 978-3-86685-658-5
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Dr. Artur Nickel
WER ich WO bin?!
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