Lesen in Deutschland berichtet über Mapping Essen
Mapping Essen - ein besonderer literarischer Stadtplan
Mit Texten aus dem Alltag von Jugendlichen
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Titelseite des Booklets © Geest-Verlag |
Mapping Essen ist eine ganz besondere literarische Karte der Stadt Essen. Eine, die es bisher noch nicht gegeben hat! Eine integrative, in der Jugendliche aus ihren unterschiedlichen Kulturen heraus Auskunft darüber geben, wie sie ihre Stadt sehen! Es sind ehrliche Beiträge, „ehrlich“ im Sinne von „unverblümt“, „nicht geschönt“, schreibt José F. A. Oliver in seinem Nachwort, und das will etwas heißen. Denn er hat die Jugendlichen ein Jahr lang beim literarischen Schreiben begleitet und mit ihnen diese Poesie des Alltags erstellt. Die Stadt Essen zum Auseinanderfalten im A1-Format, die Stadtteile jeweils gefüllt mit Kernsätzen des jugendlichen Empfindens und Schreibens. Dazu ein Booklet mit Texten aus dem Alltag der beteiligten Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Und mit Empfehlungen, wo es ihrer Meinung nach in ihrer Stadt am Schönsten ist!
Im folgenden Auszug beschreibt der 18-jährige Zouhair Jaber seinen Lieblingsort und sich selbst.
Meine Empfehlung: Essen-Steele
Essen-Steele ist ein mit zwei Bahnhöfen ausgestatteter und an der Ruhr liegender Multi-Kulti-Stadtteil. Vom Klamottengeschäft bis zur Dönerbude ist hier alles gegeben. Es sind viele verschiedene Kulturen, die hier aufeinandertreffen und trotz der Verschiedenheit immer zusammenhalten. Ganz egal, um welche Uhrzeit oder bei welchem Wetter man rausgeht, man trifft immer jemanden, den man kennt und mit dem man die ein oder andere Stunde verbringen kann. Hier finden zudem abhängig von der jeweiligen Jahreszeit auch viele verschiedene Events statt, bei denen man mit Freunden und Familie Spaß haben kann.
Außerdem findet hier der jährliche Weihnachtsmarkt statt, der immer der gleiche ist. Es gibt den Griechen mit seinem Autoscooter-Stand, der immer komplett ausrastet, wenn man nach der Fahrt aus dem Wagen springt und ihn selber anschiebt. Oder die Roma, die versuchen, anstelle eines Gucci-Portemonnaies ein Portemonnaie mit der Aufschrift Succi zu verkaufen, mit der festen Überzeugung, dass diese original seien. Und dann gibt es noch diese verdammten kleinen Automatenkräne mit einladenden Sachen wie z. B. ein Ipod Nano oder eine Rolex, bei denen man ganz genau weiß, dass man dort eh nichts ziehen wird, aber man versucht es trotzdem immer wieder.
Zu guter Letzt gibt es noch die Steeler Penner, unter denen ist ganz besonders die Dodo bekannt, welche es für ein Talent hält, gleichzeitig Musik zu hören, eine Bierflasche auf einem Bein balancieren zu können und sich dabei eine Zigarette anzuzünden. Oder auch der Werner, welcher immer nach seinem Wanderstock sucht und manchmal gut und gerne das Lied „Marmor, Stein und Eisen bricht“ singt. Tja, das alles und noch viel mehr zeichnet nunmal den Ort Steele aus, und wenn du mir nicht glaubst, komm und lass dich selbst davon überzeugen.
Zouhair Jaber
Ich sitze und denke, wie kann ich mich selbst beschreiben. Ich denke und denke, komme jedoch zu dem Entschluss, dass die Selbsteinschätzung überaus wichtig ist und es merkwürdig ist, dass es mir oder sogar vielleicht auch euch teilweise schwerfällt, sich selbst einzuschätzen. Deshalb lege ich einfach mal los:
Hier bin ich und bleib ich.
Im Herzen Marokko,
es gibt kein „Entscheid-dich!“
Zwischen zwei Kulturen.
Doch welche ist mehr wert?
Die Liebe zu beiden ist,
was die Entscheidung erschwert.
Hier entstand mein Ich und
auch meine Existenz!
Wenn ich zwischen den beiden wähle,
gibt’s die Konsequenz:
Gefangen zwischen zwei Meinungen.
Wie in einem Käfig.
Ich wähle immer beides.
Für immer und ewig.
Nach-Sätze des Herausgebers
Einen ganz anderen Unterricht erlebten die Schülerinnen und Schüler des Projektkurses „Literatur/José F. A. Oliver“ der EKG, die dieses „Mapping Essen“ erarbeitet haben. Fünf Monate lang wurden sie im Schuljahr 2017/18 jeweils für vier Tage aus dem Regelunterricht herausgenommen, um sich an einem anderen Ort fern vom Regeltakt ins literarisierende, ja, literarische Schreiben einzufinden. Und das mit José F. A. Oliver, einem der wichtigen Lyriker und Essayisten der deutschen Gegenwartsliteratur. Eine Herausforderung, zumal der versäumte Unterricht nachgeholt werden musste!
Das Konzept ging auf. Das belegen, neben dem vorliegenden Produkt, nicht zuletzt immer wieder die strahlenden Gesichter derer, die diesen Kurs gewählt haben. Literarisches oder literarisierendes Schreiben an einer Schule ist ja nach wie vor etwas Außergewöhnliches und ganz anders als das sogenannte kreative Schreiben. Es bietet jungen Menschen nämlich jenseits des Fachunterrichts die Möglichkeit, schreibend an sich und an der eigenen Sprache zu arbeiten und gestalterisch einen eigenen Ausdruck zu finden. Im Spiegel des Erzählens und Schreibens bekommen sie die Chance, sich sprachlich besser im gegenwärtigen Leben zu verorten und sich persönlich weiterzuentwickeln. Sie reflektieren ihr Sprechen und erschließen sich auf diese Weise neue Erfahrungs- und Erlebnisräume, und zwar über die Kulturen, in denen sie leben, hinweg. Dass sie dabei nebenbei auch noch ihre sprachlichen Möglichkeiten erweitern und lernen, sich besser auszudrücken, versteht sich von selbst. Das integrative Potenzial dieser Arbeit ist sehr, sehr groß und bietet viele Perspektiven, daran anzuknüpfen und das, was da entstanden ist, zu nutzen.
Die Schule bietet hier nicht einfach nur ein Lernen für ein späteres Leben, sondern stellt sich ganz bewusst ihrem in der Verfassung verankerten Erziehungsauftrag, das Hier und Jetzt ernst zu nehmen, in dem die Kinder und Jugendlichen heute leben. Gerade das ist nämlich oft genug der Schlüssel, der ihnen Zukunftschancen eröffnet und ihnen hilft, Barrieren zu überwinden. Und so verwandelte sich die Schule für diesen Kurs ein Stück weit in einen Lebens- und Gestaltungsort, wo die Teilnehmenden „an ihrem gegenwärtigen Leben“ lernten, um auf diesem Wege schrittweise Zukunft zu gewinnen. Dabei nutzte der Kurs nur allzu gerne die Räumlichkeiten, die das Kulturzentrum Grend in Essen-Steele bot, um dem eigentlich unüberhörbaren Stundentakt zu entgehen.
Schule, wenn man so will, nicht mehr als „Sandkastenspiel“, sondern als Teil des „richtigen“ Lebens! Schule, die, wo es notwendig ist, zwar weiterhin Schonräume bietet, aber junge Menschen immer wieder mit den Realitäten konfrontiert, mit ihren Realitäten, und ihnen Wege zeigt, wie sie persönlich vorwärtskommen können!
Dass die Ergebnisse veröffentlicht werden, ist dabei Teil des Konzepts. Es ist die Nagelprobe. Welche Texte sind „lesbar“? Reicht die eigene Leistung? In diesem Sinne führte Alfred Büngen, der Leiter vom Geest-Verlag (Vechta), die beteiligten Schülerinnen und Schüler in die Druckkostenkalkulation und das Marketing ihres Werkes ein.
Und noch etwas: Es kommt darauf an, wie man sich präsentiert und welches Engagement man in eigener Sache aufbringt. Da kommt es auf jeden Einzelnen an. Logischerweise fließt deshalb auch der (materielle) Gewinn wieder zurück in die Kulturarbeit der Schule. Das alles machte und macht aus dieser Projektarbeit insgesamt eine „runde“ Sache, eine, die vielleicht Beispiel gibt. Wenn doch Schule öfters so wäre!
Lesung im Ratssaal der Stadt Essen
Am 12. Februar 2019 stellen die Jugendlichen ihr Schreibprojekt dem Jugendhilfeausschuss der Stadt Essen vor. Sie werden im Ratssaal am Rednerpult lesen, wo sonst Ratsfrauen und Ratsherren sprechen.
Mapping Essen
Eindrücke, Gedanken, Sinnesreize
Poesie des Alltags und literarische Fragmente des Unverhofften
(Hg.) José F. A. Oliver, Artur Nickel, Heike Brauckhoff-Zaum
Mit einem Grußwort des Oberbürgermeisters der Stadt Essen Thomas Kufen
Vechta: Geest-Verlag, Vechta-Langförden 2018
Booklet 136 S. und A1-Stadtplan Essen von Jugendlichen/gefaltet
ISBN: 978-3-86685-698-1 l0 Euro
Kontakt:
Alfred Büngen
Geest-Verlag / Verlag für engagierte Literatur
Lange Straße 41 a
49377 Vechta
Tel.: (04447) 856580
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