Pädagogische Handreichung für die 18. Essener Jugendanthologie 'Vom Wachsen und Werden!?'

Pädagogische Handreichung
'Vom Wachsen und Werden!?'


Handreichung mit pädagogischen Zusatzinformationen

Ein Buchprojekt in Kooperation zwischen dem
Kulturzentrum Grend/Festival „Literatürk“ in Essen und dem Geest-Verlag in Vechta

Sehr geehrte Damen und Herren,

nach dem großen Erfolg der letzten Essener Anthologie mit dem Titel „Punkt. Kinder und Jugendliche aus dem Revier mischen sich ein“ wollen wir jetzt ein neues Buchprojekt für Kinder und Jugendliche zwischen zehn und zwanzig Jahren aus dem Ruhrgebiet starten, es ist bereits das achtzehnte. Diesmal geht es um das Wachsen und Werden, also darum, was passiert, wenn Kinder und Jugendliche heranwachsen und erwachsen werden. Und wieder wollen wir mit Ihnen gemeinsam etwas Besonderes schaffen. Sie, sehr verehrte Damen und Herren, haben Kontakt zu jungen Menschen. Deshalb bitten wir Sie um Ihre Unterstützung und um Ihr Engagement!

Was wir wollen

Mit dieser Buchreihe und insbesondere mit diesem neuen Buchprojekt wollen wir gerne

•     Kinder und Jugendliche mit und ohne Migrationsgeschichte in der Familie zum freien
Schreiben anregen,
•     ihnen bis in bildungsferne Schichten hinein über das Schreiben neue Perspektiven
eröffnen, wie sie sich mit ihren Vorstellungen und Bedürfnissen in unsere Gesellschaft einbringen können,
•     für sie Leistungsanreize schaffen, indem herausragende „literarische“ Einzelleistungen mit
der Aufnahme in die Anthologie belohnt werden,
•     ihnen ein literarisches Podium für eine gelungene Verständigung mit sich selbst und anderen
bieten,
•     Brücken bauen, wo es notwendig ist,
•     einen Beitrag zur ästhetischen Erziehung leisten,
•     auf literarischer Ebene Impulse für eine intensive Bildungsarbeit setzen.

Am Ende soll ein Buch stehen, in dem die interessantesten Texte veröffentlicht werden, die im Rahmen des Projektes entstanden sind.

Die Chance zur Standortbestimmung

Das Ziel dieser Reihe ist es, einen ganz besonderen Blick auf die Sichtweisen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Ruhrgebiet zu werfen. Was bewegt sie? Was fühlen sie? Wofür stehen sie? Wohin wollen sie? Es sind Fragen, deren Beantwortung für uns alle wichtig ist. Denn wie sie junge Menschen beantworten, zeigt an, wohin die Reise unserer Gesellschaft geht. Gelingt es, die Kinder und Jugendlichen in unsere Erwachsenenwelt zu integrieren? Werden sie ihren Platz in unserer Gesellschaft finden, egal, ob sie in Deutschland geboren wurden oder nicht?
Fast schon seismographisch zeigen die siebzehn Anthologien, die bisher erschienen sind, auf, was sich bei den Kindern und Jugendlichen im Ruhrgebiet verändert und wo sie Kontinuitäten bewahren. Das geschieht sicherlich nicht mit Hilfe wissenschaftlich-exakten Methoden, wohl aber sehr persönlich und authentisch. Auf diese Weise sind die Essener Anthologien, die Ruhrlesebücher, mit ihren inzwischen über tausendsiebenhundert veröffentlichten Texten geradezu zu einem Schatz der Jugendkultur geworden. Es ist wohl die einzige Buchreihe in der Bundesrepublik Deutschland für diese Altersgruppe, die so lange existiert und wirkt! Das jeweils neue Thema entsteht dabei immer wieder in Auseinandersetzung mit dem, was an Beiträgen für die letzte Anthologie erschrieben worden ist und was sich vor diesem Hintergrund an zentralen Fragen stellt. Genauso ist es auch bei dem neuen Buchprojekt.
Die bisherigen Titel:

„Fremd und doch daheim?!“, Vechta 2005,
„Dann kam ein neuer Morgen“, Vechta 2006,
„Heute ist Zeit für deine Träume“, Vechta 2007,
„Pfade ins Revier – Pfade im Revier“, Vechta 2008,
„Ruhrkulturen. Was ich dir aus meiner Welt erzählen möchte“, Vechta 2009,
„Märchenhaftes zwischen Emscher und Ruhr“, Vechta 2010,
„Zwischen meinen Welten unterwegs“, Vechta 2011,
„Wenn Wasser erzählt“, Vechta 2012,
„Dann öffnete sich mir die Tür“, Vechta 2013,
„Wie die Zeit vergeht“, Vechta 2014,
„Was mir Hoffnung macht“, Vechta 2015,
„Von Grenzen und Grenzverschiebungen“, Vechta 2016,
„WER ich WO bin?!“, Vechta 2017,
„Vom Glück und seinen Launen“, Vechta 2018,
„Ich begann zu erzählen“, Vechta 2019,
„Auf-BRUCH in meine Zukunft“, Vechta 2020.
„Punkt. Kinder und Jugendliche aus dem Revier mischen sich eiin“, Vechta 2021.

Das neue Schreibprojekt

„Wachsen und Werden!?“ heißt das neue Thema. Vielleicht ist es auf den ersten Blick etwas zu allgemein formuliert, doch führen die beiden Satzzeichen, die zu ihm gehören, gleich dahin, worum es uns tatsächlich geht. Das Wachsen beschreibt ja zunächst einmal den Prozess, wie sich ein lebendiger Organismus entwickelt, wie er körperlich wächst und gedeiht, seelisch heranwächst und auch geistig vorankommt. Das Werden wiederum bezeichnet den Weg, den man  gehen muss, um einen bestimmten Zustand zu erreichen, etwa das Erwachsenwerden. Also, wie jemand seine Identität findet und selbstbestimmt seine Persönlichkeit ausbildet! Entsprechend spielen beide Begriffe auf je eigene Weise in der Entwicklungspsychologie, aber auch der Philosophie, eine zentrale Rolle. Die beiden Satzzeichen jedoch führen nun zu einer thematischen Akzentuierung, zu einer Zuspitzung dessen, um was bei diesem Schreibprojekt geht. Das Ausrufezeichen zeigt nämlich an, dass es hier um den Anspruch von Kindern und Jugendlichen geht, ungehindert wachsen und werden zu können. Das ist ja auch so in der UN-Kinderrechtskonvention formuliert. Dem wiederum steht das Fragezeichen gegenüber, weil es genau diesen Anspruch in Frage stellt, also bezweifelt, dass er sich auch tatsächlich umsetzen lässt.
Wachsen- und Werdenwollen ist das eine; das, was von den inneren und äußeren Rahmenbedingungen her realistisch möglich ist, das andere. Das ist gerade in unseren Tagen ein Spannungsgefüge, das die Kinder und Jugendlichen im Ruhrgebiet in einer ausgesprochen zugespitzten Form erleben. Und das liegt nicht nur daran, dass sie bekanntermaßen in einem Schmelztiegel der Kulturen und Religionen zu Hause sind mit einem ständigen Strukturwandel und vielen wirtschaftlichen wie sozialen Brüchen. Es gibt weitere Aspekte, die ihr Leben massiv beeinflussen und mit denen sie sich zurechtfinden müssen.

Um was geht es genau?

Drei Dinge stehen dabei für uns im Moment im Vordergrund: Da ist zum einen die Corona-Pandemie, die ja nach wie vor ihre Schatten wirft. Zur Erinnerung: Ein Virus hat wie die mittelalterliche Pest scheinbar wahllos Menschen überfallen, so dass sie schwer erkrankten und zum Teil sogar starben. Es gab kein Mittel dagegen. Die einzige Form, etwas dagegen zu unternehmen, war die Isolation, um die Anstecktungskette zu unterbrechen. Für die Kinder und Jugendlichen hieß das, zu Hause zu bleiben und sich von anderen fernzuhalten. Die Schulen wurden geschlossen, die Freizeitangebote über lange Zeit ausgesetzt und die Kontakte restriktiv beschränkt. Und das, obwohl gerade junge Menschen auf den Kontakt zu Gleichaltrigen angewiesen sind, wenn sie sich gesund entwickeln wollen. Die Ansteckungsgefahr ließ den politisch Verantwortlichen keine andere Wahl. Inzwischen gibt es zwar Impfstoffe, die das Ansteckungsrisiko begrenzen, doch konnte mit ihnen die Pandemie bislang noch nicht überwunden werden. Das Virus traf und trifft die Kinder und Jugendlichen in einer entscheidenden Phase ihrer Entwicklung auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Sie brauchen ja den Kontakt zu Gleichaltrigen, durften ihn aber monatelang nicht in der gewünschten Form aufbauen und nutzen.  Das erzeugte bei ihnen Spannungen, die sich oft genug nach innen oder nach außen entluden. Die Folgen haben sie noch längst nicht bewältigt. Das zeigt, soweit es die Kinder und Jugendlichen im Ruhrgebiet betrifft, beispielsweise die letzte Essener Anthologie mit dem Titel „Punkt.“ Es ist eben nicht so einfach, mit der Familie auf engstem Raum zusammenzuleben, ohne sich aus dem Weg gehen zu können, unter Umständen sogar ohne eigenem Zimmer als Rückzugsort. Vielfach brachen existentielle Fragen auf, wenn sich jemand mit Covid angesteckt hatte oder gar Angehörige starben. Und sogar scheinbar längst Verarbeitetes tauchte plötzlich wieder auf und stellte einen in Frage. Das ist alles nicht bewältigt, von den Leistungsdefiziten und den daraus resultierenden Prüfungsängsten ganz zu schweigen.
Zum anderen ist es der Ukraine-Krieg, der erste Krieg in Europa nach langen Jahrzehnten, der nicht nur die Kinder und Jugendlichen im Revier seit Februar 2022 in Atem hält. Durch ihn versucht Russland,   international anerkannte staatliche Grenzen zu seinen Gunsten zu verschieben. Es handelt sich dabei in erster Linie um einen nationalistischen Krieg mit dem Ziel, ehemals russische Gebiete, das alte russisch-orthodoxe Zentrum, die Kiewer Rus, wieder zu unterwerfen und die russische Geschichte zurückzudrehen. Klar und eindeutig missachtet der russische Präsident Wladimir Putin hier das Selbstbestimmungsrecht der Völker und bricht brutal mit den Regeln unseres Zusammenenlebens, ohne dass jetzt bereits klar ist, welche Folgen dies für uns alle hat. Denn schon durch seinen Propagandafeldzug, bei dem sein Krieg nicht einmal beim Namen genannt werden darf, verkehrt er die Dinge in ihr Gegenteil. Und das, obwohl gerade die osteuropäischen Völker, Russland eingeschlossen, so massiv unter dem Nationalsozialismus zu leiden und über 20 Millionen Tote zu beklagen hatten. Auch Opfer sind ganz offensichtlich nicht gegen den nationalistischen Bazillus gefeit. Betroffen sind die Kinder und Jugendlichen bei uns davon, weil sie miterleben, wie zwei Flugstunden entfernt Millionen von Menschen aus ihrer Heimat fliehen und in den europäischen Nachbarländern bis hin zu uns Zuflucht suchen. Und so tauchen Ihre Altersgenossen, die es bis ins  Ruhrgebiet geschafft haben, nun in ihren Klassen auf und fordern sie. Denn sie haben nunmehr hautnah in ihrem schulischen und häuslichen Umfeld Anteil  an diesem Leid.  
Als drittes Moment ist schließlich die globale Klimakatastrophe zu nennen, die sich nicht mehr ignorieren lässt. Das zeigen schon allein die extremen Wetterphänomene, die wir auch hier in Deutschland erleben. Schon 1972 hat der Club of Rome in seiner vielbeachteten Studie „Von den Grenzen des Wachstums“ bekanntlich gezeigt, wie sehr individuelles lokales Handeln globale Auswirkungen hat; und bis heute hat es die Weltgemeinschaft noch nicht geschafft, den Klimawandel wenigstens auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Der Point of no Return ist nicht mehr weit entfernt, den dann die Kinder und Jugendlichen in naher Zukunft werden ausbaden müssen. Fridays for Future lassen grüßen!
Aber auch sonst gibt es auf dem Weg ins Erwachsenwerden vieles, was jungen Menschen Anlass gibt, sich mit dem Thema „Wachsen und Werden!?“ zu beschäftigen. Da ist ihre soziale Situation, in der sie sich befinden. Noch immer ist die Sockelarbeitslosigkeit im Ruhrgebiet vergleichsweise hoch, sodass sich manche Jugendliche auf ein Leben in Armut in zweiter oder gar dritter Generation vorbereiten. Auch die Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen und kulturellen Tradition, mit dem, was sie mitbringen, teilen und in der eigenen Familie leben, ist wichtig. Was hat davon Bestand, weil es einen in die Zukunft trägt? Was muss abgestreift und beiseitegelegt werden, weil es zum Ballast, zum Hemmschuh geworden ist? Trägt die Antwort, die die eigene Religion auf die Lebensfragen gibt, oder nicht? Was bewährt sich im Alltag und hält einen fest? Oder steht man gerade an einem Punkt, an dem man keinen Ausweg mehr sieht? Das betrifft einen selbst, die eigene Familie, aber auch unsere Gesellschaft insgesamt.   
All das sind herausragende Momente, mit denen sich die Kinder und Jugendlichen auseinandersetzen müssen und auch auseinandersetzen. Deutlich ist in diesen Tagen: nichts ist mehr so, wie es vorher war. Die Pandemie hat uns alle durcheinandergewirbelt und in Frage gestellt, der Ukraine-Krieg tut es genauso wie die Klimakrise. Dazu kommen die entwicklungspsychologischen Herausforderungen, die die Kinder und Jugendlichen umtreiben. Wie gehen sie im Ruhrgebiet mit ihren Schwierigkeiten um, die aus all dem resultieren? Stellen sie sich ihnen? Wie antworten sie auf dieses riesige Durcheinander? Was passiert mit ihnen und ihren Mitmenschen? Was ist mit ihrer Kultur, mit ihrer religiösen Tradition? Was bleibt? Was verändert sich? Welche Perspektive entwickeln sie? Oder müssen sie damit rechnen, dass, das, was sie sich aufbauen, wieder in sich zusammenfällt?  Manches hat man ja selbst in der Hand, es lässt sich konkret beeinflussen, anderes eher nicht. Was können sie tun und was tun sie? Warum? Das sind Fragen, die beantwortet werden wollen, und Erzählansätze, die interessant und wichtig sind. Aber sicherlich gibt es noch weitere Ansatzpunkte für das eigene Schreiben.  Es ist nichts ausgeschlossen. Zu schreiben kann Kindern und Jugendlichen jedenfalls in dieser Situation helfen, sich ihrer selbst zu vergewissern, den eigenen Standort zu finden, Perspektiven zu formulieren und möglicherweise auch Wege zu finden, wie es weitergehen kann. Insofern bietet ihnen ein solches literarisierendes Schreiben direkt und indirekt eine Orientierung, wo sie gerade stehen.

Die Chance des literarisierenden Schreibens

Das Schreiben ist gerade für Kinder und Jugendliche eine Chance. Vieles kann auf den Tisch kommen, je nach dem, was ihnen auf der Seele brennt und was sie intensiv beschäftigt. Immer wieder sind es kleine Erlebnisse, die sie innerlich berühren, manchmal aber auch äußere Widerfahrnisse, denen sie sich stellen müssen. Mal geht es um kleine Beobachtungen, die interessant und mitteilenswert erscheinen; mal sind es Schicksalsschläge, die sie aus der Bahn werfen und von ihnen eine Neuorientierung verlangen. Es sind äußere Vorkommnisse wie innere Prozesse gleichermaßen, denen sie sich stellen müssen, und von ihnen können sie schreiben. Denn das hilft ihnen. Das geht Kindern und Jugendlichen ja genauso wie uns Erwachsenen. Zum einen können sie das Dargestellte, indem sie es aufschreiben, loslassen und besser bewältigen.
Zum anderen können sie damit auch Dinge im Wortsinn zur Sprache bringen, die ihnen noch nicht so klar sind. Dann können sie sich auf diesem Weg auch positionieren und einen Standpunkt beziehen, etwa zu einem Vorfall, der sie umtreibt. Sie können sich sogar, indem sie dies tun, in eine bestimmte Tradition stellen und deutlich machen, dass sie sich mit ihr identifizieren oder gerade dies eben auch nicht tun. Und schließlich können sie erzählend auch etwas entwerfen, das vielleicht erst in der Zukunft für sie relevant wird. Das Schreiben unterstützt sie entwicklungspsychologisch auf ihrem Weg ins Erwachsenwerden; es hilft ihnen, ihren persönlichen Lebensentwurf zu finden und vorwärtszu¬kommen. Und das mitten bei uns im Ruhrgebiet! Zwischen den vielen Kulturen und Religionen, die bei uns zu Hause sind! Gerade jetzt in dieser Zeit der Unruhe, des Umbruchs.
Das Schreiben ist dabei nicht, wie vielleicht sonst im Schulunterricht, Mittel zum Zweck, sondern gewinnt seinen Wert aus sich heraus. Jeder Einzelne soll zu Wort kommen, ja, zum Wort in dem, was ihm wichtig ist und worüber er sich äußern möchte. Vielleicht sogar jenseits aller Narrative und Konventionen, die uns prägen und womöglich unser Eigenes zu verschütten drohen! Selbstbestimmtes Schreiben ist gefragt, eines, das nicht gleich von außen gesetzte Erzähl- und Schreibnormen einfordert, sondern die innere Konsistenz eines Vorgangs in den Mittelpunkt rückt und diesen unterstützt. Das kann (auto-) biografisch sein, muss es aber nicht. Denkbar ist genauso gut ein fiktives Erzählen oder eines, das noch ganz anderen Kriterien folgt, je nach Wunsch des Schreibenden. Natürlich heißt das nicht, dass die Schülerinnen und Schüler alles, was sie in der Schule und sonstwo an Erzähltechniken gelernt haben, beiseitelegen müssen; sie können das Gelernte gerne im intendierten Sinne nutzen. Das versteht sich von selbst. Es geht darum, dass sie wirklich zu Wort kommen. Das ist wichtig.
Gerade bei uns im Ruhrgebiet ist die Frage nach dem, wie man wachsen und eine Persönlichkeit werden kann, die ihr selbstbestimmtes Auskommen in Freiheit und Demokratie findet, für unseren Weg in die Zukunft von zentraler Bedeutung. Viele Menschen sind ins Revier eingewandert, um hier bei Kohle und Stahl ihr Auskommen, ihre Zukunft zu finden. Andere kamen, weil sie woanders verfolgt wurden und bei uns Sicherheit für sich und ihre Familien suchten. Das begleitet uns schon lange. Die Frage nach dem, was heute geschieht und wie es weitergeht, ist die Existenzfrage des Ruhrgebiets schlechthin, und zwar mit allen dazugehörenden Schwierigkeiten und Konflikten. Sie ist der Grund, warum so viele Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen bei uns zusammenleben, ja, vielleicht auch zusammenleben können. Und das gilt nach dem Ende des Bergbaus in unserer Region umso mehr.
Die Jugendlichen, die bei uns zuhause sind, sind mit diesen Fragen groß geworden. Sie erleben sie, sie erleiden sie, wie auch immer. Insofern dürfte das, was sie dazu zu sagen haben, besonders interessant sein in unserer global zugespitzten Situation. Vieles wird sich sicherlich in den literarisierenden oder auch literarischen Texten spiegeln, die sie schreiben. Der Schmelztiegel Ruhrgebiet steht da für sich. Und davon zu wissen, ist genauso wichtig für sie wie für uns. Das aber sind nur einige Ansätze, auch anderes ist denkbar. Im Mittelpunkt sollte auf jeden Fall das stehen, was den Jungautorinnen und -autoren auf dem Herzen liegt.

Ausblick

Und so lädt die neue Essener Anthologie alle Kinder und Jugendlichen zwischen zehn und zwanzig Jahren, die bei uns im Revier leben, dazu ein, sich mit dem Thema „Wachsen und Werden!?“ auseinanderzusetzen und darüber zu schreiben. Was erleben sie bei sich und in ihrem Umfeld? Welche Erfahrungen sammeln sie? Wie gehen sie mit den daraus resultierenden Problemen um? Was zeigt sich beim Blick in den eigenen Spiegel? Vor allem, wenn die verschiedenen Erzähl- und Schreibkulturen, die es im Revier gibt, miteinander in Verbindung treten! Was wird da entstehen? Was die Jugendlichen uns über dieses Thema mitzuteilen haben, ist mit Sicherheit interessant auch über unsere Region hinaus. Vielleicht ist es beispielgebend. Wer weiß! Umso wichtiger ist es, das Ganze mit ihnen gemeinsam anzugehen!

Unsere Bitte

Aus diesem Grunde sprechen wir Sie, verehrte Moderatorinnen und Moderatoren, persönlich an! Geben Sie den Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen, in denen Sie arbeiten und mit denen Sie zu tun haben, Raum, sich mit der Thematik zu befassen! Davon auszugehen ist auf jeden Fall, dass das, was bei jungen Menschen auf erzählerischer Ebene passiert, in vielerlei Hinsicht sein Pendant bei ihnen selbst findet. Und das ist gerade für ihr Lebensalter wichtig. Es ist ein Schritt sprachlicher „Verortung“, der sie den Blick nach vorne richten und Perspektiven entwickeln lässt. Woher komme ich? Was will ich? Was kann ich? Wie kann ich das, was ich will, erreichen? Es sind Fragen, die ihnen Wege eröffnen, sich kritisch und selbstkritisch mit der eigenen Vergangenheit, der eigenen Gegenwart und der eigenen Zukunft zu befassen. Das gilt für alle, egal, wo sie geboren wurden oder woher sie stammen. Und das ist für jeden, der mit jungen Menschen zu tun hat und sich für ihre Belange interessiert, etwas, an dem er eigentlich nicht vorbeigehen kann. Er muss darum wissen, wenn er sie erreichen will.

Von sich selbst erzählen

Wenn sich Kinder und Jugendliche mit dieser Thematik beschäftigen, so berührt das zentrale Fragen ihrer Existenz. Der Schweizer Autor Peter Bichsel sagte schon 1982 in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen: „Wer sich auf das Erzählen einlässt, der (...) tut es, um sein Leben zu leben.“ (P. B., Der Leser. Das Erzählen, Darmstadt und Neuwied 1982). Dieser programmatische Satz könnte auch für das stehen, was die neue Ruhrgebietsanthologie will. Wenn junge Menschen anfangen zu erzählen, dann sind das keine Fingerübungen. Schon gar nicht, wenn es um ihre Belange geht. Denn in ihren Texten setzen sie sich mit ihren Erfahrungen auseinander und beziehen diese auf ihre Wirklichkeit. Was sie erzählen und wie sie dies tun, spiegelt also viel von dem, was in ihnen vorgeht. Und das ist wichtig, damit sie ihre persönliche Zukunft in unserer Gesellschaft finden. Wie verarbeiten sie das, was sie erlebt haben? Wie beschreiben sie, was gewesen ist? Welche Worte finden sie für die Fakten, welche für das, was es zu gestalten gilt? Welche Erkenntnisse führen sie weiter? Gehen sie auf eine Fantasiereise oder bleiben sie im Hier und Jetzt stecken? Welche (literarische) Formkraft entwickeln sie, um das darzustellen, was sie darstellen wollen?

Tipps

Natürlich steht es jedem Jugendlichen frei, sich diesem Thema so zu nähern, wie er es gerne möchte. Gleichwohl dürften manchmal Tipps sinnvoll sein, um dem einen oder anderen Wege zu zeigen, wie er diese Thematik angehen kann. Und manchmal geht es ja vielleicht auch darum, Schreibblockaden aufzulösen und Schreibwege zu finden, die aus einer Sackgasse herausführen. Für die meisten ist ja ein solches Schreiben noch eher ungewohnt:

1.    Kreativität lässt sich freisetzen, wenn eine Geschichte aus einer ungewöhnlichen Perspektive heraus erzählt wird, etwa aus der Sicht einer anderen beteiligten Person, eines Tieres oder gar eines Gegenstandes, der sich vor Ort befindet.
2.    Manchmal ist es sinnvoll, ein Geschehen in eine andere Zeit zu verlegen, um Zusammenhänge zu verdeutlichen oder Verbindungen aufzuzeigen. So kann eine Geschichte in eine vergangene, aber auch in eine zukünftige Zeit verlagert werden, um ihr neue Erzählräume zu öffnen.
3.    Ein interessanter Verfremdungseffekt entsteht, wenn die Handlung an einen anderen Ort verlegt wird. Vielleicht in eine andere Stadt, in ein anderes Land oder sogar auf den Mond!
4.    Auch aus der Wahl der Gattung heraus lassen sich viele Möglichkeiten der Darstellung entwickeln. Denkbar ist es zum Beispiel, ein bestimmtes Geschehen nicht in die Berichtsform, sondern in ein Märchen zu gießen. Natürlich müssen solche Formen nicht vollständig ausgefüllt werden. Es geht vielmehr darum, dass die Jugendlichen für das, was sie erzählen wollen, die passende Form finden. Ein Märchen etwa ist ja nicht schon deshalb gut, weil es die Form 6 erfüllt, sondern weil Inhalt und Form einander entsprechen. Insofern kann es sinnvoll sein, Zwischenformen zu entwickeln.

Geben Sie den jungen Schreiberinnen und Schreibern die Orientierungshilfen, die sie benötigen, um sie beim Schreiben zu unterstützen! Das ist für uns kein Ausschlusskriterium. Dass sich aus dem, was Kinder und Jugendliche sich erdichten und erzählen, wichtige Impulse für die Kinder- und Jugendpolitik sowie die Integrationspolitik ergeben können, liegt auf der Hand. Allen Institutionen, die mit jungen Menschen zu tun haben, wie Schulen, Jugendgruppen, Migrantenvereine bis hin zu den politischen Verbänden bietet das Buchprojekt eine Chance zur Standortbestimmung und zur Reflexion über das, was bisher in der Arbeit mit diesen Kindern und Jugendlichen erreicht wurde. Na ja, und vielleicht ist vor diesem Hintergrund sogar hin und wieder mit neuen Einsichten zu rechnen, und deshalb bitten wir Sie um Ihr Engagement und Ihre Unterstützung! Lassen Sie also die Kinder und Jugendlichen, mit denen Sie es zu tun haben, Texte schreiben! Entscheidend ist, dass sie auf irgendeine Weise mit dem Thema zu tun haben und interessant sind.

Ihre Aufgabe als Multiplikator

Bitte geben Sie den Kindern und Jugendlichen, mit denen Sie zu tun haben, Raum und Zeit, Texte zum Thema „Wachsen und Werden!?“ zu verfassen! Nutzen Sie Ihre Position als Lehrer/in, Jugendleiter/in, Sozialarbeiter/in, Erzieher/in, Elternteil, usw., ermutigen und beraten Sie sie! Ermuntern Sie sie, in der Sprache zu schreiben, in der sie sich zu Hause fühlen!
Bitte fordern Sie Flyer für die Weitergabe an Ihre Schüler/innen, Kinder und Jugendlichen an, mit denen Sie arbeiten oder zu denen Sie Kontakt haben. Geben Sie diese an sie weiter, laden Sie sie ein und leiten Sie die gesammelten Texte bitte weiter! Bitte wählen Sie diese nicht vorher aus! Schicken Sie uns möglichst alle Texte, die bei Ihnen entstanden sind! Oft genug gibt es auch bei scheinbar Schlechterem einige Beiträge, die trotz mangelnder Sprachrichtigkeit Interessantes aufzeigen! Manchmal muss das freie Schreiben vielleicht noch geübt werden. Hilfestellung dazu bieten beispielsweise:
„Szenisches Schreiben im Unterricht“ von Thomas Richardt,
Seelze: Kallmeyer/Klett, Friedrich-Verlag GmbH 2011.
„Erzählendes Schreiben im Unterricht“ von Ulrike Wörner,
Seelze: Kallmeyer/Klett, Friedrich-Verlag GmbH, 2012.
„Lyrisches Schreiben im Unterricht“ von José F. A. Oliver,
Seelze: Kallmeyer/Klett, Friedrich-Verlag GmbH, 2013.
„Journalistisches Schreiben im Unterricht“ von Tilman Rau,
Seelze: Kallmeyer/Klett, Friedrich-Verlag GmbH, 2014.
„Literarisches Schreiben im Deutschunterricht“ von Ulf Abraham und Ina Brendel-Perpina,
Seelze: Kallmeyer/Klett, Friedrich-Verlag GmbH, 2015.
„Wort und Spiel im Unterricht“ von Timo Brunke,
Seelze: Kallmeyer/Klett, Friedrich-Verlag GmbH, 2015.
„Praxismaterial: Erzählendes Schreiben im Unterricht“, von Ulrike Wörner und Tilman Rau,
Seelze: Kallmeyer/Klett, Friedrich-Verlag GmbH, 2016.
„Praxismaterial: Erzählendes Schreiben im Unterricht“ von Ulrike Wörner und Tilman Rau,
Seelze: Kallmeyer/Klett, Friedrich-Verlag 2016.
„Praxismaterial: Journalistisches Schreiben im Unterricht“ von Tilman Rau,
Seelze: Kallmeyer/Klett, Friedrich-Verlag 2017.
„Identitäten – Dialoge im Deutschunterricht. Schreiben – Lesen – Lernen - Lehren“,
von Jörg Roche und Gesine Lenore Schiewer (hrsg.),
Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, 2017.
„Religion, Flucht und Erzählung. Interkulturelle Kompetenzen in Schule und sozialer Arbeit
mit Geflüchteten“ von Harry H. Behr /Frank van der Velden (hrsg.),
Göttingen: V & R unipress GmbH, 2018.
„Praxismaterial: Szenisches Schreiben im Unterricht“ von Thomas Richardt,
Seelze: Kallmeyer/Klett, Friedrich-Verlag, 2. Aufl. 2018.
„Praxismaterial: Lyrisches Schreiben im Unterricht“ von José F. A. Oliver,
Seelze: Kallmeyer/Klett, Friedrich-Verlag GmbH, (März) 2020.

Aber auch sonst gibt es viele Bücher oder Internetadressen, die über das freie Schreiben und seine Möglichkeiten Auskunft geben.

Wichtige Hinweise

Selbstverständlich dürfen die Jugendlichen, vor allem die mit Migrationshintergrund, in der Sprache schreiben, in der sie sich zu Hause fühlen. In welcher, das sollte gegebenenfalls mit angegeben werden. Die für den Abdruck in der Anthologie ausgewählten Texte werden, wie im Verlagswesen üblich, Korrektur gelesen und den Jungautorinnen und -autoren noch einmal zur Kontrolle vorgelegt. Wenn Sie Fragen haben, dann melden Sie sich bitte bei uns! Wir beraten Sie gerne.

1 bis 3 Texte pro Person (jeweils max. 3 Din A4-Seiten).

Die Ausschreibungsfrist endet am 1. August 2022.

Adresse (zur Abgabe der Texte)

Kulturzentrum Grend
z. Hd. Artur Nickel
Stichwort „Wachsen“
Westfalenstraße 311
45276 Essen
Email: arturnickel@web.de(link sends e-mail)
Absender (Telefonnummer, Email-Anschrift und Alter nicht vergessen!)
Die Jugendlichen, deren Texte aufgenommen werden, werden schriftlich informiert. Wer an dem Projekt teilnimmt, erklärt sich damit einverstanden, dass sein Beitrag in dem Buch und in Verbindung damit gegebenenfalls auch in anderen Medien veröffentlicht wird. Eingesandte Texte können leider nicht zurückgeschickt werden, der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Weitere Infos

www.arturnickel.de(link is external)
www.geestverlag.de(link is external)
www.grend.de(link is external)

Im November 2022 soll die Anthologie erscheinen und im Rahmen des Literaturfestivals „Literatürk“ in Essen mit einer öffentlichen Lesung präsentiert werden. Das geben wir rechtzeitig bekannt. Danach kann es weitere Lesungen und Veranstaltungen im Ruhrgebiet geben, um das Buch zu präsentieren und die in den Texten angesprochenen Themen in Schulen und anderen Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, zu diskutieren. Natürlich können Sie, so Sie dies wollen, mit dem Buch/den Büchern auch eigene Präsentationsformate in Ihrem Umfeld mit „Ihren“ Kindern und Jugendlichen entwickeln. Es gibt da bereits einige Vorbilder. Wenn Sie all dem Interesse haben, Anregungen haben oder uns unterstützen möchten, wenden Sie sich bitte an uns! Das Gleiche gilt, wenn Sie andere Fragen zu dem Buchprojekt haben.

Wir sind gespannt auf die Texte und verbleiben
mit herzlichen Grüßen

Dr. Artur Nickel
(Herausgeber)

arturnickel@web.de(link sends e-mail)
www.arturnickel.de(link is external)

Gemma Russo-Bierke
Geschäftsführerin
Kulturzentrum Grend
sowie Semra Uzun-Oender und Fatma Uzun
Festival-Team Literatüürk
Westfalenstraße 311
45276 Essen
Tel.: 02327 974246
Fax: 0201 8513250

Alfred Büngen
(Verleger)
Geest-Verlag
Lange Straße 41 A
49377 Vechta
Tel.: 04447 856580
Fax: 04447 856581
info@geestverlag.de(link sends e-mail)
 www.geestverlag.de(link is external)
 

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