alliteratus mit tiefgründiger, begeisteter Rezension über 'Ukrainische Jugendliche zwischen gestern und morgen unterwegs. Ein deutsch-ukrainisches Lesebuch'

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Artur Nickel, Alla Paslavska & Nadiya Serebryakova (Hgg.)
Ukrainische Jugendliche
zwischen gestern und morgen unterwegs
Ein deutsch-ukrainisches Lesebuch
Geest-Verlag 2023 ⋅ 396 S. ⋅ 13.80 ⋅ 978-3-86685-978-4
Es ist nicht das erste Buch von Artur Nickel, als Autor oder Ideengeber und
Herausgeber, und oft waren es Jugendliche im Ruhrgebiet, die zur Sprache
kamen. Oft genug keine gebürtigen Deutschen oder wenn doch, dann viel-
leicht erst in der zweiten oder dritten Generation. Es gab aber auch drei Antho-
logien mit Erwachsenen, nämlich zwei Stadtprojekte für Essen und Bochum sowie die Anthologie
„Von Fluchten und Wiederfluchten“. Und es war oft eine bunte Mischung von Nationalitäten, so dass
man in den Büchern immer gern „gewandert“ ist, von Seite zu Seite, von Nationalität zu Nationalität,
von Thema zu Thema, Bücher, deren Beiträge man nicht in einer vorgegebenen Reihenfolge lesen
musste, selbst wenn diese durchaus wohlüberlegt war.
Das neue Projekt war nun etwas anders: Ukrainerinnen und Ukrainer zwischen 10 und 20 Jahren
sollten mitschreiben, egal, wo sie leben, und natürlich auch aus Deutschland. Es stellte sich bei der
Umsetzung dann heraus, dass vor allem Jugendliche aus der Ukraine selbst die Chance genutzt haben,
für das Projekt zu schreiben; aus fast allen Regionen der Ukraine haben sie ihre Beiträge eingereicht
und natürlich auch aus Deutschland. „Ein Thema, das aufgrund seiner politischen Aktualität zwei-
fellos ungleich mehr berühren wird. Texte, Gedichte, Geschichten, was auch immer, schreiben und
sich darin über sich selbst äußern. Auf Deutsch oder auf Ukrainisch. Aus den Einsendungen wollen
wir ein deutschsprachiges Lesebuch erstellen. Kurz zusammengefasst, worauf es uns ankommt: Alle
Jugendlichen dürfen sich dem Thema so nähern, wie sie es gerne möchten. Sie dürfen über ihre All-
tagserfahrungen schreiben, über ihre kulturelle oder auch religiöse Tradition, über ihre persönlichen
Gefühle, aber auch gerne etwas erfinden. Gut ist es, wenn das, was sie ausdrücken wollen, interessant
ist. Darauf kommt es an.“ So waren die Pläne von Artur Nickel – und nun ist das Buch da.
Für mich war schon vorweg das Faszinierende daran, in einem aktuellen Buch authentische Aussagen
lesen zu können, von den Betroffenen selbst, die in der Literatur weder hier noch dort allzu viele
Stimmen haben.
Da gibt es das Zitat der 15-jährigen Sofia Zavalniuk:
Wir suchen nach einem Sinn für die Zeit
zwischen dem Morgen und dem Gestern,
Eine so kurze Zeitspanne,
in der das Leben vergehen wird.
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Astrid van Nahl ⋅ Januar 24 ⋅ 2 | Seite
Suche nach dem Sinn der Gegenwart – kein einfaches Thema, und schon gar nicht, wenn man aus
der Ukraine kommt. Diese Jugendlichen haben in der Tat den Krieg erlebt, sind zum Teil mit ihren
Familien aus russisch besetzten Gebieten geflohen, einige von ihnen haben das Massaker von Butscha
miterlebt und ganz konkret Tote und Verletzte in ihrem Familien- und Freundeskreis zu beklagen. Sie
haben im 21. Jahrhundert Krieg als ihren Alltag in der Heimat erlebt, etwas, was wohl nur noch die
wenigsten hiesigen Leser aus eigener Erfahrung nachvollziehen können. Wer im zweiten Weltkrieg
geboren wurde, ist heute über 80 Jahre alt, und es gibt kaum noch Zeitzeugen, die sich an selbst
Erlebtes erinnern werden. Dabei wäre gerade die kindliche oder jugendliche Perspektive so wichtig,
so interessant. Anders also in diesem Buch, das genau denen das Wort erteilt: Kindern und Jugendli-
chen zwischen 10 und 20 Jahren. Und natürlich ist der Krieg das Thema, um das alle Texte kreisen.
„Woran ich mich erinnere“ ist eine Frage. „Explosion … Explosion … Explosion … Militärgerät
brüllt laut … Summen … laut … gespenstisch … erwachen … ist das ein Traum? … vor dem Fenster
schwarze Rauchwolken … Realität … Entsetzen … Panik … erschrockene Gesichter … ein Wirbel-
wind aus Anspannung, Verwirrung, Angst … Warum?“ ( Sofia, 16; S. 19)
Dreizehn Themen sind es, um die die Texte der Jugendlichen kreisen, in etwa chronologisch geordnet:
Worüber zu sprechen ist – Wie alles begann – Der 24. Februar 2022 – Meine Gefühle überschlagen
sich – Wir mussten fliehen – Stolpersteine unterwegs – Aus meinem Tagebuch – Von Brüchen und
Umbrüchen – Vieles hat sich für mich verändert – Ein Jahr nach dem Überfall – Wie es jetzt weiter-
gehen soll – Ich träume – Was ich mir wünsche – und dann das Nachwort von Artur Nickel: Ukraini-
sche Jugendliche in Kriegszeiten unterwegs.
In diesem Nachwort bewertet er die Situation für die Jugendlichen, fasst ihre Texte noch einmal zu-
sammen, in sieben Punkten, ausgehend von der Flucht nach Kriegsbeginn, die Nickel eine „europäi-
sche Reise“ (S. 365) nennt, angetreten voller Neugier, souverän, frei. Der zweite Punkt befasst sich mit
der Frage, wie man eine Kriegssituation bewältigt, wenn man alles verliert, dem Tod ins Auge sieht,
sich in einem gewissen Maße entwurzelt fühlt. Den Gefühlen dazu gilt Punkt 3; sie bewegen sich
zwischen Verstörung, Hass und Zuversicht. Verbunden damit ist in Punkt 4 ein weiterer Aspekt, der
kaum jemals irgendwo erwähnt wurde und der auch mir zuvor nicht aufgegangen war: die Rolle der
jungen Menschen als literarische Chronisten bedrohten Lebens in einem Vernichtungskrieg. Wie aus
alledem von innen her ein kulturelles Selbstbewusstsein erwächst, erläutert Nickel in Punkt 5. Für
mich war vielleicht das Erstaunlichste der sechste Punkt, dass nämlich der Blick dieser jungen Men-
schen auf das Zukünftige optimistisch ist, trotz der katastrophalen Ereignisse. Punkt 7 ist eine Ana-
lyse der Wünsche und Sehnsüchte der Jugendlichen, die Nickel aus den Texten zieht. Sie weisen bei
aller Einfachheit eine für so junge Menschen erstaunliche menschliche Reife auf, die man so manchen
Politikern wünschen möchte, auch den deutschen:
– Der Krieg soll so schnell wie möglich enden.
– Die Beziehungen zwischen den Staaten sollen fair sein.
– Es gilt den Menschen Hoffnung zu geben.
– Sie fordern Zusammenarbeit.
– Sie möchten Bücher haben, als Inbegriff von Bildung, um den Krieg und das zu verstehen,
was die Welt zusammenhält.
– Sie wollen richtigen Frieden.
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Astrid van Nahl ⋅ Januar 24 ⋅ 3 | Seite
Was mich tief beeindruckt hat, war die Reife der Gedanken, die überall, selbst bei den jüngsten Teil-
nehmern, zum Ausdruck kommt; ihr Wille, die Gegenwart zu verstehen und nach einer Lösung der
Probleme zu suchen; sich nicht dem Hass zu ergeben, was bei all den eigenen Erlebnissen und Ver-
lusten wohl verständlich wäre. Diese Wünsche resultieren vielleicht in der Einsicht, dass es dann, und
nur dann Hoffnung geben kann auf einen Frieden, der ein Miteinander wieder möglich macht und
auch eine gewisse Normalität geben könnte.
Auch dieses deutsch-ukrainische Lesebuch ist ein Projekt von Artur Nickel. Großartig, dass es solche
Menschen gibt, denke ich. Was haben sie den Betroffenen, die hier zu Worte kommen, nicht alles zu
geben auf ihrem Weg ins Erwachsensein, auch in dieser unerträglichen Situation des Krieges. Ein
Projekt, das zweifellos nicht einfach war, galt es doch, in diesen vom Krieg unschuldig Getroffenen
etwas bloßzulegen, aus ihnen hervorzuholen, was vielleicht schon verloren geglaubt war oder worüber
diese jungen Menschen sich vorher nicht unbedingt Gedanken gemacht hatten, weil die unbekannten
Probleme eines Krieges und seiner Auswirkungen in vielerlei Hinsicht ihnen fern schienen. Tatsäch-
lich ist es gelungen, die Jugendlichen ein Stück weit aus ihrer Opferrolle herauszuholen. Sie konnten
dabei über das Schreiben und seine Gestaltungsmöglichkeiten ihr Schicksal ein wenig in die ei-
gene Hand nehmen. Sie sind daran gewachsen. Ich stelle mir vor, dass niemand, der an diesem
Schreibprojekt teilgenommen hat – und es waren mehr als 200 –, als der- oder dieselbe aus diesem
Projekt herausgegangen ist. Und der „Lehrer“, Artur Nickel, zweifellos auch nicht, auch wenn er sein
ehemaliges Lehrerdasein abgelegt hat und sich zu Recht vielmehr als Autor und Literaturvermittler
sieht. Vor diesem Hintergrund ist er inzwischen übrigens sogar ins PEN-Zentrum Deutschland hin-
eingewählt worden.
Zu erwähnen sind auch der ▶ Ukrainische Deutschlehrer- und Germanistenverband mit seiner
Präsidentin, Prof. Dr Alla Paslavska, sowie die Koordinatorin des Projekts, Nadiya Serebryakova,
und das ▶ Kulturzentrum Grend Essen. Ohne diese Zusammenarbeit wäre das Projekt nicht
durchführbar gewesen.
Ein Dank soll auch dem ▶ Geest Verlag gelten, der diese Projekte seit Jahren mit einer Veröffentli-
chung förder